Vor kurzem hatte ich einen 19-jährigen Abiturienten und seine Mutter im Jobcoaching. Der junge Mann, der gerade sein Abitur in der Tasche hat, kam eher unfreiwillig des lieben Friedens willen mit. Er hat bereits klare Vorstellungen für die nahe Zukunft: Ein Jahr lang möchte er auf eine Jobentdeckungsreise gehen und in Praktika bei verschiedenen Unternehmen in unterschiedlichen Branchen herausfinden, welcher Beruf oder welches Studium zu ihm passt. Er könne sich nicht für einen Studiengang oder eine Ausbildung entscheiden, weil er nicht wisse, wie später der Beruf aussieht und ob er überhaupt Gefallen daran findet. Dafür hat er bereits Kontakt zu diversen Unternehmen, auch im Ausland, aufgenommen und bewirbt sich fleißig. Er wiederum kam mit der Hoffnung in die gemeinsamen Gespräche, dass er mit seiner Meinung im Jobcoaching Unterstützung in der Argumentation gegenüber seiner Mutter / seinen Eltern findet. Gleichzeitig wünschte er sich ein Checkup seiner Bewerbungsunterlagen und Tipps für die bevorstehenden Bewerbungsgespräche.
Die Mutter hingegen, die für beide Elternteile sprach, ist der Ansicht, dass dieses Jahr für ihren Sohn ein verlorenes Jahr sei. Ihr Ziel in den Beratungsgesprächen war es, den Sohn umzustimmen und hoffte, dass ich sie in meiner Funktion als Jobcoach darin unterstütze.
Ihre Argumente gegen das Jahr ‚Auszeit‘ waren unter anderem die ‚unnötige‘ Verlängerung der Ausbildungszeit: Die Eltern befürchten, dass ein Jahr ‘easy living’ den Start in ein Studium oder eine Ausbildung unnötig verzögert und sich das Jahr Auszeit in seinem Lebenslauf negativ darstellt. In einer Familie, in der alle Mitglieder ihren guten Lebensstandard durch harte Arbeit, gute Berufsausbildungen und durch Studium erreicht haben, spielen Erwartungen und Traditionen eine nicht unerhebliche Rolle.
Zudem bestand eine erhebliche Skepsis gegenüber der Eigenverantwortung des Sohnes: Die Eltern schienen wenig Vertrauen in die Selbstdisziplin und Zielstrebigkeit ihres Sohnes zu haben. Sie nahmen den schlechtesten Fall an – dass er die Zeit ‘verdaddelt’ und sich nicht auf seine Zukunftspläne konzentriert. Da die Eltern das Jahr für ihren Sohn komplett- bzw. teilfinanzieren müssten, haben sie ein Mitspracherecht.
In der Beratung wurden beide sehr gegensätzlichen Seiten gehört und die Für und Wider herausgearbeitet und gegeneinander abgewogen. Aber ist dieses Jahr tatsächlich ein verlorenes Jahr für den Sohn? Nein, auf keinen Fall. Nachdem der junge Abiturient seiner Mutter seine Strategie und Vorgehensweise für dieses eine Jahr überzeugend darlegen konnte und ich ihn in seiner Absicht bestärkte, wich ihre Skepsis und die Mutter fing an, ihrem Sohn zuzuhören und seine Wünsche zu respektieren. Bislang nahmen die Eltern die durchaus reflektierte Seite ihres Sohnes nicht Ernst, sondern unterstellten ihm im Grunde, dass er sich erst einmal auf seinem bestandenen Abi ausruhen wolle.
Beide -Sohn und Mutter- kamen in insgesamt zwei Sitzungen zu dem Ergebnis, das dieses Jahr mit dem Durchlaufen von Praktika in verschiedenen Branchen Vorteile für die berufliche Zukunft des Sohnes bringt:
Selbstfindung und Berufserfahrung: Ein Jahr der beruflichen Erkundung gibt dem jungen Mann die Möglichkeit, verschiedene Berufe und Branchen kennenzulernen. Dies hilft, fundiertere Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Gegebenenfalls kann er auch die Möglichkeit eines dualen Studiums in Betracht ziehen. Oder er absolviert vielleicht erst eine praktische Ausbildung und hängt danach noch ein Studium dran, um seine Karrierechancen zu verbessern und sich höher zu qualifizieren.
Netzwerkaufbau: Durch Praktika und Kontakten zu Unternehmen kann er ein wertvolles berufliches Netzwerk aufbauen, das ihm später zugutekommen kann.
Persönliche Entwicklung: Neue Erfahrungen und Herausforderungen fördern die persönliche Entwicklung und Selbstständigkeit. Bestenfalls hat er nach Abschluss des Jahres seine Berufung gefunden.
Fazit: Sich auszuprobieren, bevor der junge Mann sich für ein Studium final entscheidet, ist legitim. Es kann helfen, spätere Fehlentscheidungen und Studiengangwechsel zu vermeiden. Gleichzeitig verstehe ich die Sorge der Mutter aus ihrer Perspektive. In einer Familie, in der alle Mitglieder beruflich erfolgreich sind, sind die Erwartungen an den Sohn entsprechend hoch. Ihr wurde nach ihrem Schulabschluss damals nicht die Möglichkeit geboten, sich einem Berufsbild durch Praktika zu nähern. Sie nahm eine Ausbildung an und ‚hielt durch‘. Im Laufe der Jahre hat sie sich durch etliche verschiedene Fort- und Weiterbildungen eine leitende Position erarbeitet und ist heute nicht mehr in ihrem eigentlich erlernten Beruf tätig. Ihr Traumberuf ist es nicht, aber sie ist zufrieden. Hätte sie damals die Möglichkeit und vielleicht auch den Mut gehabt, sich erst einmal auszuprobieren, wäre sie vielleicht in einem ganz anderen Berufsfeld, einer anderen Branche, gelandet.
Meines Erachtens ist es wichtig, dem jungen Mann die Chance zu geben, seinen eigenen Weg zu finden und wertvolle Erfahrungen zu sammeln.
Die Eltern werden, nachdem sie alles nochmals gemeinsam zu Hause ausführlich besprochen haben, das Jahr (teil)finanzieren, es gibt dadurch keine finanziellen Engpässe für die Familie.